Übermalung - Kinzler, Burkhard

Titel

Übermalung : nach Thomas Tallis

Komposition

Kinzler, Burkhard

Besetzung

für solistisches Vokalensemble (ATTBB) und grossen Chor

Dauer

ca. 15-20 Minuten

Schwierigkeitsgrad

3 mittel

Schlagwörter

Aleatorik, graphische Notation, Improvisation, Klassenmusizieren / heterogene Gruppen, Kompositionswerkstatt / partizipatives Arbeiten, Raummusik, theatralische Elemente / Musiktheater

 

KOMMENTAR

Kurzbeschreibung

„Beklemmend, bewegend und befreiend“ sei die Uraufführung des Werkes „Übermalung“ von Burkhard Kinzler 2007 bei der Meersburger Sommerakademie gewesen, schreibt der damalige Rezensent des SÜDKURIERS und spricht von einer „Sternstunde der Neuen Musik“. Die Begegnung historischer Musik mit den Klängen unserer Zeit fasziniert ob ihrer spontanen Vergänglichkeitserfahrung von Zeiten und Epochen, dem Aufeinanderprallen zweier Welten. Eindrücklich wird das Publikum ins Geschehen genommen, weil es vom Chor in großem Kreise quasi umrundet wird, nicht frontal bespielt, sondern umgeben von musikalischen Eindrücken. Die „Klagelieder Jeremiae“ werden zur inneren Stimme von Ausführenden und Zuhörern, Distanz scheint aufgehoben. Dazu könnte die Aufführung symbolischen Charakter erlangen: „Der Kreis (die Aufstellung des Chores um das Publikum) wirkt wie ein Kraftfeld, in dem die Energien hin- und herfließen. Es entsteht ein soziales und demokratisches Miteinander, in dem die Aussage jedes Einzelnen zum Gelingen des gesamten Werkes essentiell wichtig ist.“ (zitiert nach dem Vorwort der Partitur).

Notation

Im Wesentlichen traditionelle Notation der Tonhöhen und Rhythmen. Im Chorpart, der stark improvisatorisch aufgebaut ist, einige wenige, leicht verständliche graphische Zeichen zur Tonlänge und zur Verwendung der linearen, gesanglichen Motive.

Anforderungen

  • Das Werk ist in drei Abteilungen gegliedert.
  • Der Solopart ist prinzipiell für professionelle SängerInnen angelegt, bietet aber keine extremen Schwierigkeiten und übernimmt den originalen Notentext einiger Auszüge aus Thomas Tallis‘ Motetten-Zyklus „Lamentation Jeremiae Prophetae“ in lateinischer Sprache. Ein in sich geschlossener, runder Vokalklang wird intendiert. Es gibt keine schwierigen, expressionistischen Vokalpartien mit diffizilen Intervallsprüngen oder intrikaten Rhythmen.
  • Auch die Aufgaben des großen Chores sind nicht mit extremen intervallischen oder metrischen Aufgaben entworfen. Die gestisch linearen Gebilde sind aus dem melodischen Material der Motetten-Vorlage von Tallis abgeleitet, meist in sehr gedehnten Abläufen und individuell zu gestalten, ohne Koordination mit den Nachbarstimmen. Größtmögliche Individualität ist also gefordert.
  • Auch die Tugenden des klassischen Gesangs, die stabile, auf gut gestütztem Atem geführte Tongebung sind gefordert.
  • Die dynamischen Werte des Werks sind ausdruckstragend eingesetzt.

Didaktische Hinweise und Empfehlungen

  • Die drei Satzbezeichnungen „Aquarell“, „Relief“ und „Gouache“ weisen auf kompositionsästhetische Überlegungen des Komponisten hin. Farblichkeit insgesamt, aber auch die Art der Farben und ihr Erscheinungsbild von verfließend bis prägnant, geben nicht nur Hinweise auf den Charakter der Ausführung und der Interpretation der drei Abteilungen, sondern rufen nach Anschluss zu Nachbardisziplinen der Musik, insbesondere natürlich der Bildenden Kunst: Einbettung in Ausstellungen, Vernissagen o.ä. sind möglich, wie genuin als Teil der Liturgie zur Passion oder Ergänzung zu Requiem-Aufführungen.
  • Ferner eröffnet die Komposition vielfältige Möglichkeiten zu Themenreihen: Das Übermalungsverfahren in der Musik findet sich parallel im Parodieverfahren der Messen und Motetten der Renaissance oder bei Bach, die spätere Bearbeitung historischer Quellen ist ein Quell der Erfindung in der Klassik und Romantik, die 2. Wienerschule hat ihre eigene Sicht auf die Polyphonie der vergangenen Musiktradition und in den Partituren unserer Zeit spielt das Durchscheinen der Tradition und Suchen nach dem offenen Charakter früherer Werke gewichtigen Anteil an einem modernen Kunstverständnis.
  • Zur praktischen Einführung in die Klangwelt der „Übermalung“ wäre empfehlenswert, Improvisationen mit dem melodischen Material bekannter Kirchenlieder nach den Ideen der Partitur zu entwerfen. Das Lutherlied „Aus tiefer Not“ würde dabei nicht nur Text-inhaltlich, also theologisch, sondern auch musikalisch Türen öffnen. Die phrygische Melodie ist ein formelhafter Baustein der Motette von Tallis. Die Erfindung von Motiven aus wenigen Tönen der Melodie, deren kanonische Verwendung in freien Metren für jeden Choristen, kann bereits im Vorfeld der Erarbeitung der Partitur von Burkhard Kinzler zu selbständigen Ergebnissen führen, die dem Chor ein gewisses Selbstvertrauen in die eigene Kreativität vermitteln würden. Dissonante Klänge, Schwebungen, Dichtegrade der Akkordballungen, dynamische Expressivität lassen sich so spielerisch erarbeiten.
  • Der Solopart mag für das Selbstverständnis eines Chores eine weitere Chance bieten, dies in zweierlei Richtung: Da wäre zunächst naheliegend die Integration von Solisten, die ohnehin immer wieder verpflichtet werden und damit in engster Zusammenarbeit mit „Ihrem“ Chor treten könnten, enger als in den Solopartien von Messen und Passionen. Noch herausfordernder, aber für die eigene Chorentwicklung nachhaltiger, wäre der Gedanke, die vorhandenen Talente eines Chores, die in der Lage sind solistische Partien zu übernehmen, zu fördern und damit langfristig zu binden, auch wenn sie etwa bald an der Musikhochschule andere Wege gehen würden. Vielleicht ist das künstlerische Ergebnis einer solchen Formation geschlossener als durch eine Summierung unterschiedlicher Solisten, oder es formt sich dadurch gar ein neues Vokalensemble.
  • Eine Stoppuhr in der Hand jedes Chormitglieds zur Kontrolle des Zeitablaufs sollte kaum bemerkt eingesetzt verwendet werden.
  • Der Dirigent soll nur wenige Zeichen geben und das Vokalensemble sollte ohne Dirigent agieren.
  • Wenn es zur Sicherheit der Aufführung nötig ist, kann über die möglichen Koordinationsaufgaben mit sensiblem Vorgehen ans Werk gegangen werden (Zeichen untereinander, Subdirigieren, sichtbare Zeitmessung u.a.)
  • Der Charakter des freien Miteinanders sollte aber auf keinen Fall aus dem Auge verloren werden.

Bezugsquelle

Erhältlich beim Komponisten (burkhardkinzler@bluewin.ch)